T.V. Junky auf Turkey

13.21 Uhr. Ich schrecke aus unruhigem Halbschlummer: Träumen, durchsetzt von Tankerunglücken, Lösegeldforderungen und Börsendaten. Über den Bildschirm flimmern die Mittagsnachrichten...
Mein Schädel dröhnt – immer dieser unglaubliche Kater am Morgen danach – Scheiß trockene Zunge, Scheiß grelles Sonnenlicht, Scheiß Leben das...
...und dann diese Nervensäge mit seiner blöden Wirtschafts-, Steuer-, Flüchtlings- oder was-weiß-ich-Debatte, das ätzt! – Weg damit! – Zapp! – Zapp! – Weiter! – Zapp! – Stop, was war das ? – Zurück! - Ach so: “Magnum”, die n-tausendfünfzigste Folge. Scheiß Schwulenkrimi! – Weiter!
Nervös hacke ich auf die Fernbedienung ein: Ausgerechnet jetzt, bei Kabel 1 und einem müden John Wayne-Remake aus den frühen 80ern hängt das Ding wieder! – Die Batterien müßten wohl auch mal wieder gewechselt werden. – Da, endlich! – Was ist das ? – VIVA 2!
Ein hippeliger Typ grätscht ins Bild, läßt einen verjaulten Urschrei von sich, der wohl BÖSE klingen soll, und faselt was von “Ironfisting” mit “Metall-Schlitzen”.
Gemeint sind damit wohl die vier Nietengirlies im Hintergrund, die augenscheinlich keinen Blassen haben, welchen Kübel Unrat der Moderator gerade über ihren gepiercten Häuptern ausschüttet. Ich stelle mir vor, wie das jetzt kommen würde, wenn eine der vier DOCH des Deutschen mächtig wäre und welche Figur der Baby-Terminator wohl mit einem anal eingeführten Mikrofonständer machen würde. – Insgeheim hoffe ich auf ein “Carcass”-Video...
Statt dessen gibt es einen auf die Tischplatte geklopften “Cannibal Corpse”-Song und einen Hip-Hop-Clip. Ich fühle mich verarscht.
Das Interview gelangt inzwischen über “South Park”-Reminiszenzen zum Drogenkonsum. Wie originell! Der Moderator erweckt zwar eher den Eindruck, als seien McDonald’s-Milchshakes der härteste Stoff, den er in seinem Leben je probiert hat, aber macht ja nichts: Fußball darf ja auch von Leuten kommentiert werden, für die Norweger die Brasilianer Skandinaviens sind...
Immerhin man erfährt, daß die Mädels Crack nur Donnerstags und manchmal am Sonntag rauchen, Montag ist Valium-Tag. – Kann das sein, daß heute grade Montag ist ? – Egal, weiter! –Zapp! –Zapp! – VIVA 1!
Jürgen und Zlatko singen was vom “Großen Bruder”. – Unglaublich, daß einer, dessen Nachname sich wie eine Geschlechtskrankheit anhört, zum Medienstar werden kann, Typen schickt der Strafvollzug!
Daß angesichts dessen Amoklaufen in Deutschland noch KEIN Volkssport geworden ist, kann meiner Meinung nach nur einen Grund haben:

DIE REGIERUNG VERSETZT DAS TRINKWASSER MIT BERUHIGUNGSMITTELN!

Ich stürze ins Bad, fülle einen Liter Leitungswasser in eine leere Saftflasche und kippe das Ganze in 2-3 Zügen runter – hilft nichts!

Ich mache 20 Liegestütze – hilft nichts!!

Ich beiß mir in die Hand – hilft nichts!!!

Ich sinke erschöpft in den Sessel zurück und zappe resigniert weiter – hilft natürlich erst recht nichts:
Auf Pro 7 erklärt Andrea, eine andere Ex-Containerinsassin, warum sie sich für 10.000,- die Brust vergrößern lassen will - ich vermute mal, weil sie das Silikon für ihr Großhirn eingetauscht hat; RTL kontert mit einem Szene-Special über speedsüchtige Crashkids, die bei einem Taek-won-doo-Kurs auf Ibiza resozialisiert werden sollen, SAT 1 mit einer Talkrunde zu dem Thema “Wie verführe ich am besten meinen Klassenlehrer?”. - Mir wird übel.
Ich erbreche eine halbe Stunde mit Galle vermischtes Leitungswasser und erinnere mich beiläufig, daß ich die letzte feste Nahrung vor 19 Stunden hatte. Die Uhr zeigt 17.53 – höchste Zeit für ALDI...
Vierzig Minuten und eine schlampig aufgewärmte Tiefkühl-Pizza später tauche ich leicht benebelt wieder in die Virtualität des T.V. zurück – e viva Cannabia!
Aber heute ist Durchhalten angesagt: Das Erste malträtiert mit Mutantenstadl, das ZDF mit Hitparade, die Privaten bringen Eigenproduktionen.
Der blanke Horror: Karl Moik und Dieter Thomas Heck, Kai Pflaume und Ulla Kock-am-Brink - das alles auf Dope. Und zu alledem scheint noch der Vollmond durch’s Fenster. - Ich ertappe mich, wie ich den Besteckkasten durchwühle. – Da, endlich, leitet eine vertraute Melodie zu den Spätnachrichten über.
Erleichtert nehme ich meinen Beobachtungsposten wieder ein, die sonore Stimme des Sprechers berichtet teilnahmslos von einer Ausweitung der Krawalle in mehreren Großstädten. – Nie hätte ich gedacht, daß ich realen Irrsinn als wohltuende Alternative zum konstruierten empfinden könnte, aber es ist so. Selbst die Meldung, in meinem Vorgarten sei eine Bombe explodiert, würde mir im Moment nicht mal ein Schulterzucken abnötigen. Ob das vielleicht am Ende so gewollt ist? Empfinde ich die Mattscheibe tatsächlich schon als sichere Grenze, die meine heile Welt von der bösen da draußen scheidet, oder ist die Trennlinie zwischen Realität und Fiktion bereits so verschwommen, daß ich Nachrichten schon als Videoclip wahrnehme?
Diese Überlegungen werden durch ein schrilles Klingeln an der Tür unterbrochen. Draußen steht eine Horde mit Videokameras und Mikrofonen bewaffneter Menschen, die sofort in meine Wohnung eindringen und dabei pausenlos auf mich einreden, wobei es um irgendwelche absurden Dinge geht, die ich angeblich getan haben soll. Ich versuche zu erklären, mich zu rechtfertigen, verwickle mich dabei aber in Widersprüche. Als ich schließlich aus den Augenwinkeln wahrnehme, daß die ganze Szene live über den Bildschirm läuft, ist Schluß: Ich breche schreiend zusammen...

...und schreiend erwache ich. Verwirrt blicke ich in die Ecke, in der bis vorgestern mein Fernseher stand. Daß Entzugserscheinungen so grausam sein können..

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