Merseburg

Merseburg kenne ich schon sehr lange. Mein Zug von Berlin nach Thüringen fuhr da immer durch. Und ich wußte, ich wollte hier nie aussteigen. Wegen der qualmenden Schlote von Leuna und Buna. Und überhaupt, ich habe nie verstanden, daß hier Leute leben. Bis ich hierher zog...
Und das war eine Art Flucht.
Bis dahin hatte ich auf einem Dorf bei Weißenfels gewohnt. Bei 'nem Kumpel, der dort einen Bauernhof hatte und da ein Ökoprojekt aufziehen wollte. Nachdem er sich aber mit allen dafür in Frage kommenden Leuten verkracht hatte und die Landkommune auf zwei Personen, zwei Katzen und einen Hund geschrumpft war, verlegte sich der Gute leider darauf, zum Psychopathen zu mutieren, was meinen Spaß an der Sache auch ziemlich herabsetzte. Dann hat noch der Hund die kleinere der beiden Katzen gefressen und ich hatte echt keinen Bock, abzuwarten, wann die schizophrene Töle Appetit auf mich bekommen würde...
So bin ich auf dem Campus gelandet, abgeworfen wie'n Alien, in einer Bude, die fatale Ähnlichkeit mit 'ner Armeeunterkunft aufwies. Na schön!
Immerhin kann man hier regelmäßig warm duschen, der Vermieter klaut einem nicht die Fressalien aus dem Spind oder mosert rum, wenn der Abwasch mal stehen bleibt. Und ich muß nicht mehr auf's Plumpsklo!
Daß ich deshalb nun in heller Liebe zu Merseburg entbrannt wäre, kann ich aber auch nicht sagen. Dazu sieht die Stadt einfach zu zerschunden aus. Und es gibt zwei Welten in Merseburg, die sich praktisch nie treffen: Den Campus und die Stadt.
Der Campus ist ein Areal am Westrand von Merseburg, eingesäumt von der Geusaer Straße und einem Sumpfgebiet. Das ist dort, wo die Studenten wohnen, oder besser wohnten. Denn wohnen kann man das kaum nennen, was die Studenten zwischen Montag und Freitag auf dem Campus so treiben. Dementsprechend tobt hier auch das Leben.
Die Stadt, das ist alles, was südlich, östlich und nördlich vom Campus liegt. Dort wohnen Merseburger. Das sind Menschen, die zu 20% arbeitslos sind und zu 99% um 20.00 Uhr schlafen gehen. Demzufolge hält man den Campus in der Stadt für einen Sündenpfuhl und sich selber davon fern. Wer wider Erwarten um 20.00 noch keinen Schlaf finden kann, fährt folgerichtig lieber nach Leipzig oder Halle oder noch weiter weg. Weil in Merseburg ja nichts los ist, was selbstverständlich nicht an den hier Lebenden liegt...
Wie jede Stadt, die auf sich hält, hat Merseburg natürlich auch so seine Sehenswürdigkeiten. Es sind das der Dom, das Schloß, das ehemalige Provinzparlament und der Schloßgarten mit Schloßgartensalon, die sich allesamt auf einem Berg namens Altenburg am Ufer der Saale befinden, sowie ein paar Kirchen in der ansonsten durch die DDR-Lückenbebauung mit WBS-70-Betonsilos arg aus dem Gleichgewicht gebrachten Altstadt. Ein geschickter Fotograf hat es sogar fertig gebracht, das Dom- und Schloßensemble über die Saale hinweg so abzulichten, daß man glaubt, Merseburg wäre ein idyllisch am Flußufer gelegenes verträumtes Mittelalterstädtchen. Das Foto kündet also folglich logischerweise in allen erhältlichen Sachsen-Anhalt-Bildbänden davon, daß Merseburg der Gipfel ist. Eine Einschätzung, die sicher jedem Touri spontan entfährt, wenn er erstmal am Hauptbahnhof todesmutig seinen Zug verlassen hat und vielleicht gar einen Kaffee in der Bahnhofskneipe zu sich nimmt. Dort kann er dann einen repräsentativen Querschnitt der unteren Zehntausend der Stadt erblicken und wird daraufhin seinen Kaffee vermutlich französisch trinken. Ob das mit dem Werbeslogan vom Fremdenverkehrsbüro wirklich so gemeint war? Naja.
Das ist also die Stadt, in der ich lebe. Nun schon drei Jahre. Und die ganze Zeit frage ich mich, ob ich mich nur daran gewöhnt habe, oder ob's mir hier mittlerweile sogar gefällt. Immerhin, ich gehe nach wie vor höchst selten vor 0.00 Uhr ins Bett. Ein richtiger Merseburger bin ich wohl noch nicht...

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