'Coming out' oder was...

"Frauen", sagte Frank, "Frauen sind so'n Ding in letzter Zeit. - Werd' einfach nicht schlau aus denen..."
Angewidert starrte er auf den Berg Kippen im Ascher, suchte eine noch halbwegs zugängliche Stelle und drückte dort seufzend seine halbaufgerauchte Zigarette aus. Dann schaute er sich um.
Die Party war definitiv zuende: Überall standen leere und halbleere Bierflaschen und Weingläser in der Gegend herum, um die sich niemand mehr kümmerte, da die Gäste, die noch nicht gegangen waren, auf Sitzmöbeln oder einfach am Boden vor sich hindämmerten. Ein Pärchen hatte sich offenbar ins Nebenzimmer verzogen und ging dort einer Beschäftigung nach, deren Begleitgeräusche die Hintergrundmusik zu Franks Erklärungen an seinen schon reichlich apatischen Gesprächspartner abgaben. Frank lauschte eine Weile andächtig dem allmählich anschwellenden Rhythmus, der schließlich in einem Duett aus spitzen hohen Schreien und einem tieferem Laut, der einem Grunzen nicht unähnlich war, gipfelte. Dabei konnten sich seine Augen einfach nicht von dem überfüllten Aschenbecher auf dem Tisch vor ihm losreißen.
"Asche", dachte er, "alles nur Asche."
Joe hatte weiß Gott 'ne ganze Menge Aschenbecher. Er schien die Dinger ja regelrecht zu sammeln! Und jeder glich jetzt einer Art Miniaturvulkan aus Tabakresten, Filtermundstücken und - Asche. - Einfach eklig! - Asche eben. - Wie alles...
"Asche waren wir, Asche sind wir, zu Asche werden wir schließlich wieder werden. Was tut da schon das bißchen hormongesteuerte Dazwischen? - Oder sollte es tatsächlich so etwas wie GEIST geben? Und wenn, hatte dieses unsichtbare, nicht zu greifende Etwas irgendeinen Einfluß auf das, was geschah? War es nicht eigentlich nur der lächerliche Versuch der Gene, ein bißchen Unsterblichkeit zu lecken, sozusagen auf spiritualisierter Ebene? Geschlechtsverkehr und künstlerischer Schöpfungsakt als alberne Versuche, Arretierungshaken in den Fluß der Zeit zu schlagen, als hätten dessen Wasser Balken?"
Frank schüttelte den Kopf.
"Nur Reiben, keine Nähe", bemerkte er mit einem Kopfnicken zu der Tür, die jetzt eine satte Stille verströmte.
"Verschmelzung ist der Tod!", fuhr er fort. "Ja, doch! - Der Zweck der Vereinigung ist doch heute nicht mehr erwünscht..."

Oder will etwa irgendjemand noch beim Bumsen einen neuen Menschen erzeugen? Wenn ja, der Trend der Zeit spricht jedenfalls eindeutig gegen diese Dinosaurier!

Frank griff sich die nächststehende Bierflasche, setzte sie an und - verzog angewidert das Gesicht:
"Äh, das riecht ja wie Pisse!"
"Isses vermutlich auch.", grinste sein Gesprächspartner, seine bisherige Lethargie etwas aufgebend. "Daß'n paar Leute nach dem einen oder anderen Bier einfach nicht mehr den Weg zur Toilette auf die Reihe kriegen..." Belustigt beobachtete Marvin Franks verzweifelte Bemühungen, einen plötzlich aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken.
"Hey, laß dich doch einfach gehen. Auf'm Teppich liegt eh schon das meiste vom kalten Buffet 'rum. - Übrigens, was war das gleich mit den Frauen?"
Frank mußte schlucken. Gar nicht angenehm, wenn man gerade im Begriff steht, sein Abendessen hervorzuwürgen...
"Weiß' nich", entgegnete er dann. "Wie soll ich denn wissen, worauf 'ne Frau grad' aus ist? Intellektuelles Gelaber? Puren Sex? 'Ne prickelnde Mischung aus beidem? - Hat sie einfach Langeweile oder will sie IRGENDWAS - ganz andres..."
Es war ein gewisses Stocken in Franks Stimme, das Marvin stutzig machte. Da war doch was faul! Marvins penetranter Wissensdurst war wie der aller notorisch neugierigen Leute absolut unabhängig vom Alkoholpegel, so daß er sofort wieder hellwach war.
"Weißte was? Ich kenn da das Versteck von 'ner ganz exquisiten Flasche Bordeaux.", meinte er verschwörerisch. "Schau mal in der Küche im Geschirrspüler nach. Ich kann hier im Moment nicht weg..." Das stimmte. Irgendwas langhaariges hatte sich's auf Marvins Schoß bequem gemacht. Marvin, ganz Gentleman, konnte selbstverständlich nicht riskieren, die Schläferin aufzuwecken. Außerdem war er der Meinung, daß Frank sowieso gerade stand.

Der sah das naturgemäß ein klein wenig anders. Abgesehen davon, daß er alles andere als gerade stand, da war noch das saublöde Gefühl, von Marvin als Laufbursche mißbraucht zu werden. Und schließlich erfordert die Behandlung einer Flasche Bordeaux eine gewisse Zeit. Da ist erstmal der Kampf mit dem Korken, dann wird meistens etwas verschüttet, wenn man selbigen mit etwas Glück endlich entfernt hat und schließlich, man kann Bordeaux doch nicht einfach so in sich hineinschütten. Ein solch edler Tropfen muß in Ruhe genossen sein!
Die beiden Freunde gaben sich denn auch redlich Mühe, diesem hohen Anspruch gerecht zu werden, fügten andererseits Wand und Teppich noch einige völlig neue Farbtupfer in Rubinrot hinzu und kamen ganz nebenbei auf Franks ganz speziellen Kummer zu sprechen: Seine Freundin hatte ihn verlassen. Angeblich, weil er ihr unheimlich geworden wäre. So'n Quatsch!
Marvin mußte gähnen. Ach Gott, war das langweilig! "Und ich hab schon gedacht, du hättest wirklich Probleme!", knurrte er. "Die Hippe war sowieso nix für dich..."
"Na toll! Das ist immer der erste Spruch, den ich zu hören kriege, wenn's Beziehungsstreß gab. Fällt dir nichts andres ein?"
"Wieso? Wenn die Schlampe zu dir gepaßt hätte, wär't ihr ja wohl noch zusammen. - Also?"
Frank war wieder ins Grübeln verfallen. "Marvin?", meinte er dann, dessen letzte Bemerkung ignorierend. "Was soll'n das überhaupt für'n Typ Frau sein, der was für mich ist? - Ich meine, gibt's eigentlich irgendwelche Frauen, die was für mich sind?"
Marvin schaute sein Gegenüber zweifelnd an. Fing DAS etwa so an?
"Also, falls du vorhaben solltest, das Gegenteil mal auszutesten - ich stehe dir nicht zur Verfügung.", entgegnete er abwehrend.
Dann hatte er es auf einmal verdammt eilig: "Du Frank, tut mir leid, ich muß jetzt wirklich heim...", sagte er nach einem hastigen Blick auf seine Armbanduhr und stürzte zur Tür, einen verblüfften Frank, eine nunmehr umgestürzte Weinflasche sowie eine ziemlich unsanft aufgeweckte Schläferin zurücklassend.

"Hi - ich bin Krissy." Die Worte weckten Frank aus seiner Betäubung. - "Hi, Krissy.", entgegnete er abwesend. Immerhin, nun hatte die Unbekannte wenigstens einen Namen. Frank hatte trotzdem nicht das Gefühl, daß ihm das weiterhelfen würde.
Aber vielleicht wollte Krissy ja auch lieber weiterschlafen und ein Gespräch hatte sich erübrigt. Oder sie löste sich auf, wenn er die Augen schloß. Oder er würde die Antwort auf alle seine Fragen wissen, wenn er nur lange genug den Atem anhielt. Oder, oder, oder...
...oder er hatte einfach mal wieder Pech gehabt.

Es ist schon komisch: Man nehme zwei halbwegs gesunde Individuen der Gattung Mensch, vergewissere sich, daß beide bei Bewußtsein sind, sperre sie in einen Raum und lasse sie lange genug miteinander alleine. Sofern sie sich nicht auf der Stelle gegenseitig umbringen, werden sie versuchen, miteinander zu reden. O.k. das klappt nicht bei Indianerhäuptlingen, Zen-Buddhisten oder Taubstummen. Ansonsten ist es aber fast sicher, daß folgendes dabei herauskommt: Ein Gespräch.
Und ein Gespräch funktioniert bekanntlich so: Einer sagt was, darauf sagt der andere was. Worauf ersterer wieder was sagt und so weiter und so weiter. Und alles, was im Verlauf dieses Hin und Her gesagt wird, steht in einem (manchmal durchaus sehr vagen) inhaltlichen Zusammenhang.
Das gilt sogar noch für den Fall, wenn der eine Gesprächspartner Kisuaheli spricht, während der andere nur des Japanischen mächtig ist. Man wird wohl erstmal ausprobieren, inwieweit eventuell vorhandene Fremdsprachenkenntnisse weiterhelfen, bevor im allerschlimmsten Fall beide irgendwann auf Gebärden- oder Bildersprache ausweichen. Aber selbst das, was sie dann miteinander veranstalten, ist im Grunde genommen, ein Gespräch...
Nun, Sie wissen, wie das ist, wenn Sie einer anquatscht. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder hat man Bock oder man hat keinen. Im ersten Fall wird sich daraus ein Gespräch entwickeln, im zweiten leider meistens auch. Frank hatte eigentlich keine Lust auf ein Gespräch mehr. Aber, wie das Schicksal so spielt, wenn man in Ruhe gelassen werden will, stellt irgendjemand eine saublöde Frage...

Die saublöde Frage kam. Wie nicht anders zu erwarten, von Krissy.
"Hä?!", fragte Frank. "Was meinste?"
"Na, ob'de schwul bist."
"Schwul? So'n Blödsinn! - Übrigens, das heißt nicht schwul sondern homosexuell..."
"Ach nee? - Na gut. Dann biste also homosexuell?"
Typisch! Die Braut hatte wohl im Unterbewußtsein ein paar Gesprächsfetzen aus Franks Unterhaltung mit Marvin mitbekommen, ähnlich krankhafte Schlüsse wie dieser gezogen und besaß auch noch die Unverfrorenheit, ihm ihre unzusammenhängenden Erkenntnisse bei erstbester Gelegenheit um die Ohren zu hauen. Soviel zum Thema weibliches Einfühlungsvermögen! Andererseits - eine Frage erfordert eine Antwort.
Frank mußte grinsen. "Also - wenn ich schon homosexuell wäre, ich sage nur wenn. - Dann wäre ich sicher 'ne Lesbe im Körper eines Mannes..."
"Du bist aber blöd!", kicherte Krissy los. Jetzt lachten beide. Es war doch alles so einfach. Was sind schon Probleme? Fragen, die sich Menschen stellen, ohne ernsthaft eine Antwort darauf suchen zu wollen. Kurz gesagt, nichts.
"Weißte was?", prustete Frank, "Vielleicht fliege ich auch nachts als Fledermaus durch die Gegend und sauge junge Dinger aus. - Dinger wie dich!"- "Ach so?", entgegnete Krissy ganz ernsthaft, während ihre überraschenderweise gar nicht kalten Finger begannen, Franks kantige Gesichtslinien nachzuzeichnen. "Deine Gesichtsfarbe wäre auch echt passend, mein Graf...", flüsterte sie, bevor sie Frank ins Ohrläppchen biß. So war ihm schon lange keine mehr gekommen. "Irgendwie ist das doch wohl'n Angebot, oder?", meinte er ungläubig. "Oder was?", fragte sie zurück. Dann verabreichte sie ihm den, so schien ihm, intensivsten Zungenkuß seines Lebens.
"Naja.", erwiderte er, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, "Was ist, wenn ich zum Beispiel 'Jack the Ripper' wäre? Scheißfeeling zu okkulten Zwecken ausgeweidet zu werden, kann ich dir sagen!"- "Das würdest du doch nicht ernsthaft tun?! Doch nicht mit mir!" Frank schüttelte den Kopf. "Nicht ernsthaft - mit Wonne!"
"Übrigens, wußtest du, daß man aus dem Zustand der Eingeweide den Grad der Umweltverschmutzung ablesen kann?" - "Echt jetzt?" - "Klar doch! Wen von den Pennern hier hier wollen wir zur Probe mal aufschlitzen?" Frank zwinkerte vielsagend mit den Augen, während er mit seinem Schmetterlingsmesser jonglierte.
Krissy schien sich eine Weile nicht sicher zu sein, ob jetzt das Spiel wirklich zum Wahnsinn eskalieren sollte, bevor sie sich entschied, daß ihr das eigentlich egal war: "Du spinnst doch!", bemühte sie sich locker wie möglich zu klingen. "Stimmt!", entgegnete Frank, während er das Messer zusammenklappte und wegsteckte. "Aber ich bin ein netter Spinner. Manisch, schizoid und gewalttätig - aber lieb! - So! Und nachdem das nun endlich geklärt ist, könnten wir eigentlich gehen. Im Bier ist Pisse und der Wein ist verschüttet. Außerdem will ich dich jetzt!" - "Na gut! Ich hab auch grad nichts Dümmeres vor!" - "So? Keinerlei Widerworte? - Wie gewöhnlich! - Und wohin gehen wir? Zu dir oder zu mir? Wiese oder Stundenhotel?" - "Tankstelle." - "Häh?" Diese Antwort kam etwas verblüffend. "Pff - ich bin halt nicht nur sexy und willig, sondern auch hochgradig kriminell.", erwiderte Krissy so unbeteiligt es ging. "Außerdem habe ich Durst und keinen Pfennig in der Tasche. Und du hast ja scheinbar 'nen halben Waffenladen einstecken..." - "Die Einstellung gefällt mir. In der Stadt ist sowieso schon lange kein Nachtschalter mehr gefleddert worden. - Aber ich mach's nur, wenn du's mir hinterher französisch besorgst..." - "Wenn du dich fesseln läßt? - Kein Problem!"
Sie sahen fast wie zwei glückliche Menschen aus, als sie wenig später scherzend und lachend in die allmählich blasser werdende Nacht entschwanden.

Die Nacht verflog gänzlich, der Tag begann und spie sein Licht auf die langsam erwachende Stadt. Frank hatte seine Arbeit am späten Nachmittag gerade beendet, als er Besuch erhielt: Marvin. Dieser hatte wie immer nach durchzechten Nächten einen unwahrscheinlichen Rededrang und so kam es, daß sich beide schon an der Gartentür binnen kurzer Zeit gehörig festquatschten.
"Freut mich, daß du jetzt wieder ganz der Alte bist, Frank." Marvins Stimme klang echt erleichtert. "Wieso?" entgegnete der Angeredete, während er sich die erdverschmierten Hände an seinem Overall abwischte.
"Na, wegen gestern. 'n Moment lang dachte ich wirklich, du wärst ernsthaft andersrum." - "Ach Quatsch! Das war bloß wegen der Scheißgeschichte mit Janet. 'n bißchen Ackern an der frischen Luft und man sieht so was ganz anders." - "Hm. Hab' deine Wühlerei schon bemerkt.“ Marvin wies mit dem Kopf auf Franks bemerkenswert gepflegte Blumenbeete. „Hast du 'ne Leiche verbuddelt?" - "Nö, nur so'n altes Aas. - Komm, wir saufen noch einen. Im Keller steht noch'n halber Schnapsladen und wartet auf Vertilgung..."
Wie nicht anders zu erwarten, war Marvin von diesem Vorschlag hellauf begeistert. So begeistert, daß er die dunklen Flecken in der Diele übersah und auch nicht bemerkte, wie Frank hinter sich die Kellertür abschloß, als sie zum Schnapslager hinabstiegen...

 

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